Grenzverletzungen und Missbrauch sind gelegentlich Gegenstand von Beratungsprozessen, insbesondere in Supervisionen und Coachings.
In dieser Positionierung geht es uns um Überlegungen zum Umgang mit Grenzverletzungen und Missbrauch in den Beratungsprozessen selbst, also durch Supervisor*innen, Coaches und Organisationsberater*innen.
Anlass ist, dass die DGSv sich kürzlich bereits bei verschiedenen Anlässen mit dem tabuisierten und schambesetzten Phänomen von (sexuellen) Übergriffen beschäftigt hat:
- im Zuge der Auszeichnung der Abschlussarbeit von Anna-Maria Generotzky über den „Missbrauchsfall Lügde“ mit dem Cora-Baltussen-Preis 2022
- in einem Barcamp „Supervision und Grenzüberschreitung“ am 6. März 2024
- im Rahmen eines DGSv Kompass Tages am 14. Juni 2024 mit dem Titel „Zur Sache kommen: Erotik, Sexualität und Supervision“
Es geht uns in dieser Positionierung ausdrücklich nicht darum, dass Grenzverletzungen durch DGSv-Mitglieder ein häufiges Problem seien. Wir streben proaktiv einen angemessenen Umgang damit an, dass wir nicht ausschließen können, dass es zu Grenzverletzungen und Missbrauch im Rahmen von Beratungsprozessen kommen kann oder in der Vergangenheit gekommen ist.
Dabei sind die Besonderheiten der Professionen Supervision und Coaching zu berücksichtigen. Gerade in den Kernfeldern der Supervision – in der sozialen Arbeit, der Pflege, im Gesundheitswesen oder der frühkindlichen Erziehung und Betreuung – wo Menschen mit und auch körpernah am Menschen arbeiten, gehört es zur Professionalität, die Spannung zwischen Nähe und Distanz zu den Klient*innen immer wieder neu auszutarieren. Dies hinzubekommen ist nicht immer leicht, darüber offen zu sprechen noch weniger. Insbesondere der erotisch-sexuelle Aspekt ist schambesetzt. Supervision kann dazu dienen, die Scham zu überwinden und auch die intimen Aspekte beruflichen Handelns besprechbar zu machen. Auch in Coachings und in der Organisationsberatung sind Fragen von Nähe und Distanz immer wieder ein Thema. Dies ist die eine Seite, der Umgang mit diesen Phänomenen im Beratungsfeld.
Die andere Seite ist die Gestaltung der beziehungsintensiven Beratungsprozesse. Um supervisorische Arbeit leisten zu können, ist die Regulierung der Berater*innenrolle zwischen Nähe und Distanz von herausragender Bedeutung. Der Umgang mit Grenzen ist deshalb nicht nur ein latentes, sondern ein praktisches Thema des Kompetenzerwerbs und der Berufsausübung. Ob in der supervisorischen Arbeit mit Klient*innen oder in den Supervisionsqualifizierungen: Das Austarieren des Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz ist zentraler Bestandteil der Beratungs- bzw. Lehr-/Lernprozesse. Die Reflexion darüber, wie dies angemessen zu handhaben ist, ist fest in der Profession verankert.
Eine Schwierigkeit ist, dass Grenzverletzungen – zumindest bis zu einem gewissen Grad – auch eine Frage der Perspektive und der Wahrnehmung sind. Wo die Grenze des einen bereits überschritten ist, zeigt sich die andere gänzlich gelassen. Hinzu kommt, dass Grenzen manchmal erst dann klar erkennbar werden, wenn sie überschritten wurden. Deshalb gehört zur Professionalität stets auch, sich selbst und seinen Klient*innen etwas zuzumuten. Ein Beratungsprozess, eine Supervisionsqualifizierung bedarf bis zu einem gewissen Grad der (Möglichkeit der) Grenzüberschreitung, wenn sie wirksam sein soll. Dennoch hat diese Zumutung ihre Grenzen. Spätestens dann, wenn die Zumutung der eigenen Bedürfnisbefriedigung des*der Berater*in dient und nicht den Anforderungen an eine beraterische Intervention genügt.
Im Umgang mit solchen Phänomenen möchten wir uns am üblichen supervisorischen Vorgehen orientieren, bei dem der Fokus auf folgenden Fragen liegt: Wie können wir schambesetzte Themen und Szenen besprechbar machen? Wie schärfen wir unsere Wahrnehmung für Grenzen und Grenzverletzungen? Wo liegt unsere Verantwortung? Was können wir praktisch tun?
Gespräche organisieren und die Wahrnehmung schärfen, diese Aufgabe werden wir auch in den kommenden Jahren insbesondere im Rahmen des Veranstaltungsprogramms immer wieder wahrnehmen. Unsere Verantwortung sehen wir darin, diesem Thema nicht auszuweichen und im Verband dafür zu sensibilisieren. Ganz praktisch weisen wir auf die Ombudsstelle hin, die sich derartiger Fälle annehmen kann, und bieten selbst Gesprächsbereitschaft an.
Dr. Annette Mulkau, Robert Erlinghagen
Vorstand der DGSv