Interview: Inseln des Nachdenkens in Corona-Zeiten

08.04.2020Presseclipping

Ein Interview mit Paul Fortmeier, Geschäftsführer der DGSv, zur aktuellen Situation sowie zu Möglichkeiten und Formaten von Supervision und Coaching während der Corona-Krise.

Herr Fortmeier, Sie sind selbst Supervisor und Coach und Geschäftsführer des größten deutschen Berufsverbands Ihrer Branche. Können Supervision und Coaching in der Corona-Krise helfen?

Die Corona-Krise stellt alles auf den Kopf, mit neuen Anforderungen, Belastungen und Unsicherheiten für beinahe jede*n. Natürlich gibt es da an vielen Stellen, teils sogar erhöhten, Bedarf an Beratung, um über Wege und Lösungen in der Krise nachzudenken. Im Krisenmodus ist allerdings für die meisten erst einmal Handeln angesagt. Fast alle müssen sich neu organisieren in ihrem Arbeitsalltag, sind völlig ausgebremst und schauen in eine ungewisse Zukunft – das gilt auch für die Supervisor*innen und Coaches selbst. Viele Supervisionsprozesse können momentan nicht stattfinden, weil die Zeit fehlt, aber auch, weil bestimmte Settings mit den aktuellen Einschränkungen nicht vereinbar sind. Alle miteinander, Berater*innen und ihre Klient*innen, befinden sich in einer völlig neuen und ungewissen Situation.

Was können Supervision und Coaching leisten in einer solchen Situation?

Wir können dabei helfen, über Nachdenken wieder eine Struktur zu finden, auch wenn diese nur vorübergehend ist. Wir bieten Reflexion, das ist der Kern unseres Geschäftsmodells. Wir verbessern nicht selbst etwas, sondern bieten den Menschen, die in ihren Zusammenhängen etwas verbessern und verändern können, wollen und müssen, Denkräume an, damit sie sich auf ihre Kräfte konzentrieren und sie entsprechend einsetzen können: Wie führe ich meinen Betrieb, wie führe ich meine Mitarbeitenden unter den neuen Bedingungen mit Home-Office und Remote-Arbeit, wie kriegen wir das hin, wie bekommen Klient*innen und Kund*innen die notwendigen Leistungen, wie kann ich Orientierung geben? Die Anforderung an die Führungskräfte ist, nichts zu beschönigen, aber so gut es geht Sicherheit zu geben. Das ist ein wichtiges Thema.

Wie profitieren Menschen und Organisationen davon konkret?

Reflexion ermöglicht, überlegter vorzugehen und die ersten, im Krisenmodus verständlicherweise auch panischen Reaktionen hinter sich zu lassen. Wenn man es ermöglichen kann nachzudenken und Dinge zu besprechen, wird es sofort ruhiger, als wenn man permanent agieren muss. Reden und sich austauschen sind im Krisenfall wichtige Faktoren. Wenn Führungskräfte steuern und Orientierung geben sollen, sind sie ja nicht außerhalb der Welt. Auch sie selbst haben Ängste und Sorgen. Dafür können unsere Berater*innen gute Gesprächspartner sein.

Wer sucht jetzt trotz oder wegen der Krise verstärkt Beratung?

Das ist unterschiedlich. Diejenigen, die bislang von Beratung profitiert haben, greifen auch jetzt stärker darauf zurück, weil sie wissen, was sie davon haben können. Diejenigen, die das bislang nicht in Erwägung gezogen haben, kommen mitten im Krisenmodus auch nicht auf die Idee. Das kommt erst noch. Welche Fähigkeiten dann genau gefragt sind, das wird sich zeigen. Grundsätzlich ist es empfehlenswert für alle, die, auch im permanenten Handlungsdruck, konkret über etwas nachdenken wollen, die eine Situation strukturieren, Schwerpunkte setzen und Prioritäten überprüfen wollen – was habe ich gemacht, bin ich auf dem richtigen Weg? Tue ich die richtigen Dinge zur richtigen Zeit? Bei einem bestehenden Beratungsverhältnis kann das auch mal eine punktuelle Sitzung zur Unterstützung im Krisenmanagement sein. In der Regel sind Supervision und Coaching aber prozesshaft angelegt, um Erfahrungen aus bestehenden Abläufen zu sammeln, gemeinsam zu reflektieren und die nächsten Schritte auf der Grundlage dieser Reflexion – vielleicht überlegter und fundierter – zu tun.

Über welche Kanäle und in welchen Formaten finden Beratungen jetzt vor allem statt?

In der Einzelberatung geht natürlich vieles auch jetzt schon über Videokonferenzen. Online-Formte können im Zweierkontakt gut funktionieren. Das hat auch mit der Affinität der Menschen mit bestimmten Medien zu tun. Bei einem Austausch in der Gruppe wird es auch technisch sehr anspruchsvoll. Die Interaktion in Gruppenprozessen kann in Supervision und Coaching methodisch eine wichtige Rolle spielen, ein Teil dieser Interaktion fällt online bzw. in der Videokonferenz einfach weg. Manche Organisationen werden dann erfinderisch und suchen nach Räumen, die hinreichend groß sind, in denen sich trotz der aktuellen Lage Settings in der Gruppe, mit angemessenen Abständen untereinander, auch weiterhin an einem Ort durchführen lassen. Für viele ist es noch wichtiger geworden, über die Situation, die sich für sie gerade zuspitzt, gemeinsam in ihrem Team reden zu können.

Welche Rolle spielen Solidarität und Zusammenhalt? Alle fordern sie, die Realität sieht oft noch anders aus.

Die Folgen der aktuellen Entwicklungen können wir im Moment noch nicht ermessen. Ich glaube, dass marktliberale Vorstellungen und Haltungen in Zukunft verstärkt auf dem Prüfstand stehen. Was es für Nachteile hat, allein den Markt regieren zu lassen, zeigt sich gerade im Gesundheitswesen. Die Frage des Sozialen, was uns wirklich wichtig ist und was wir über das Wirtschaften hinaus miteinander anfangen wollen, stellt sich ganz neu – auch in Bereichen, in denen man sich diese Frage vorher noch nicht gestellt hat. Denn die Folgen kommen ja erst noch.

Was kann die DGSv tun, um Mitglieder und Beratungsklient*innen in dieser Zeit zu unterstützen?

Wir versuchen zu informieren, bieten eine Plattform für Austausch und Vernetzungsmöglichkeiten. Das machen wir intensiv und es gelingt uns ganz gut im Moment – aber es ändert natürlich an der grundsätzlichen Situation nicht viel. Auf unserer Webseite haben wir ein Forum geschaltet, wo unsere Mitglieder sich austauschen und gegenseitig beraten. Gleichzeitig brauchen wir auch die Expertise unserer Mitglieder, die aufgrund ihrer Wahrnehmungen und Erfahrungen nun als Expert*innen für Beratung besonders gefragt sind. Beratungsinteressent*innen können sich bei uns nach wie vor über den Berater-Scout informieren und ebenfalls unsere Webseite nutzen – die meisten Angebote dort sind öffentlich.

Wird sich durch die jetzige Krise die Art und Weise verändern, wie Supervision und Coaching stattfinden?

Die Krise ist für uns auch eine Prüfsituation: Haben wir etwas wirklich Relevantes anzubieten? Wenn Supervision und Coaching relevant sind, und davon gehe ich aus, werden sie sich als Inseln des vertieften Nachdenkens und der Reflexion im Meer der vielen Handlungsanforderungen durchsetzen. Technisch-methodisch wird es einen Digitalisierungsschub geben, gleichzeitig gibt es weiterhin auch Beratungssituationen face-to-face: Wenn sich das unter den gegebenen Regeln und Hygienemaßnahmen herstellen lässt, hat die Unmittelbarkeit und Präsenz des persönlichen Treffens deutliche Vorzüge. Hat man diese Möglichkeit nicht, dann ist eine Videokonstellation immer noch besser als nichts. Es wird neue Formen geben, die wir selbst entwickeln können und müssen. Aktuell ist unser jährliches Verbandsforum, das Ende April stattfindet, als digitaler Kongress in der Umsetzungsplanung. Die Krise regt auch Kreativität an und bringt Neues hervor.

Das Interview führte Caroline Eckmann, Eckmann & Rowley, Bonn

DGSv Geschäftsführer und Verbandssprecher Paul Fortmeier ©DGSv/Christian Rolfes

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